Die Verbreitung Künstlicher Intelligenz (KI) verändert die Arbeitswelt. Besonders für neurodivergente Menschen, wie Autist*innen, spielt KI mitunter eine entscheidende Rolle. Es kann ein unterstützendes Tool oder ein neuer Arbeitsbereich sein. Ursula Schemm, Marc Ristau und Tobias Thesing gaben im Januar 2025 in einem Interview einen Einblick in die Arbeit von auticon zu den Themen KI und Inklusion.
Das Interview wurde gekürzt veröffentlicht im Blog des Projekts “KI Kompass Inklusiv”. Hier ist das gesamte Interview.
- Können Sie uns einen kurzen Überblick über die Mission und die Arbeit von auticon geben?
Ursula Schemm: Der IT-Dienstleister auticon wurde vor 13 Jahren in Berlin vom Vater eines Autisten gegründet, der feststellte, dass sehr viele Autist*innen trotz hoher Qualifikation und individueller kognitiver Stärken keinen Job am ersten Arbeitsmarkt haben. Er entwickelte ein Modell, bei dem autistische IT-Spezialisten fest bei auticon angestellt und im Rahmen von IT-Projekten bei Kunden eingesetzt werden. auticons Ziel ist es, eine Gleichstellung neurodivergenter Menschen im Beruf zu erreichen und so viele Autist*innen wie möglich an den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Wir sind deshalb kein soziale Einrichtung, sondern ein Social Enterprise, also sozial und wirtschaftlich orientiert, und wir agieren in vielen Bereichen wie andere IT-Dienstleister auch. Wir finanzieren uns durch die Kundenprojekte und können so unseren Mitarbeitenden marktübliche Gehälter und Karrierechancen bieten.
Auch in anderen Branchen wollen wir die gleichen Konditionen für Autist*innen schaffen, die für Nicht-Autist*innen selbstverständlich sind. Unser über viele Jahre hin erprobtes Stärken- und Kompetenzen-basiertes Modell beweist der Wirtschaft, dass Inklusion ein Business Benefit ist, nicht (nur) ein sozialer Akt. Das kommunizieren wir stark nach außen. Heute ist auticon an sechs Standorten in Deutschland und weltweit mit über 30 Niederlassungen in 15 Ländern in Europa, Nordamerika und Australien vertreten und beschäftigt rund 575 Mitarbeitende, davon ca. 76 Prozent im Autismus-Spektrum.
- Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz (KI) in den Projekten und Dienstleistungen von auticon?
Tobias Thesing: Bereits vor dem Hype um LLMs haben wir Kunden im Bereich Machine Learning und Data Science mit Methoden unterstützt, auf denen viele KI-Technologien basieren. Beispielsweise haben wir für die DA Direkt Versicherung Kundendaten analysiert, um Business Insights zu generieren, die über klassische deskriptive Statistiken hinausgehen.
Hinweis: Eine Beschreibung des Projekts bei der DA Direkt ist hier: https://auticon.com/de/portfolio/da-direkt-case-study/
- Welche Rolle spielt Inklusion in den Projekten und Dienstleistungen von auticon?
Ursula Schemm: Inklusion ist das Ziel aller unserer Projekte und Services und durchdringt jeden internen Prozess. Die IT-Dienstleistungen von auticon sind alle darauf zugeschnitten, dass häufige autistische Stärken wie zum Beispiel Mustererkennung, das „Sehen“ von Fehlern und Normabweichungen, logisches und analytisches Denken, kreative Lösungsansätze, Strukturiertheit und eine klare, direkte Kommunikation zur Geltung kommen.

Unsere Kunden wissen um die besondere Workforce und beauftragen gezielt autistische Software-Entwickler und -Architekten, Tester und Testautomatisierer, Data Scientists, Prozessoptimierer oder Cyber Security Spezialisten. In den Projekten erleben sie dann, wie bereichernd die Zusammenarbeit fachlich und menschlich ist. Dafür haben wir ein genaues Matching der Projektanforderungen und der Skills, Fähigkeiten und Anforderungen unserer autistischen Mitarbeitenden entwickelt. Zudem beschäftigen wir Job Coaches, die sowohl die autistischen IT-Spezialisten als auch die Projektkunden in der Zusammenarbeit unterstützen. Mit Erfolg: Viele Unternehmen werden durch die positive Erfahrung angeregt, selbst neurodivergente Mitarbeitende einzustellen. Auch dabei unterstützen wir sie und geben unsere langjährige Erfahrung und unser Wissen in Form von Neurodiversity & Inclusion Services mit Consulting, Trainings und Coachings weiter.
- Sind Sie in Forschungsprojekte zum Thema KI und Inklusion involviert? Wenn ja, in welche? Können Sie diese kurz vorstellen?
Marc Ristau: Die Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Einrichtungen und Forschungsprojekten hat generell einen hohen Stellenwert für uns. KI und Inklusion ist aktuell ein häufiges Thema. Das gerade ausgelaufene Forschungs-Projekt „UFO“ (in Kooperation mit Uni Stuttgart und Fraunhofer IAO) zum Beispiel hat genau das zum Fokus: Mit KI wird Sensorik ausgewertet und Neurofeedback generiert, das in einer VR-Umgebung sowohl über kognitive Trainings als auch im Rahmen einer gamifizierten Storyline mit edukativer Komponente über Neurodiversität in mehrfacher Hinsicht zu Inklusion beitragen kann. Wir planen aktuell die Weiterentwicklung dieser Forschung.
KI und Inklusion
- Setzt auticon KI ein, um inklusive Arbeitsumgebungen zu fördern oder zu gestalten? Wenn ja wie?
Marc Ristau: Wir haben bei auticon Deutschland rund 75% neurodivergente IT-Spezialist*innen. Viele sind aus fachlichem und persönlichem Interesse heraus an KI interessiert, so dass sich schon früh Arbeitsgemeinschaften gebildet haben, die die Möglichkeiten ausloten. Es werden versuchsweise verschiedene KI-Tools gebucht und evaluiert, auch der Einsatz in unterschiedlichen Abteilungen und Fachbereichen wird getestet. Die Unterstützung neurodivergenter Kolleg*innen gehen wir individuell und in enger Zusammenarbeit mit den Job Coaches an. Mitarbeitenden mit Dyslexie zum Beispiel wird empfohlen, diese durch LLM & NLP zu kompensieren. LLMs werden auch genutzt, um die Vielzahl an bestehenden Texten einfach auf neurodivergente Anforderungen hin optimieren zu können.
- Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Entwicklung und Anwendung von KI, um die Bedürfnisse von Autist*innen besser zu berücksichtigen?
Marc Ristau: Mensch-Technik-Interaktion ist teilweise inhärent von autistischer Perspektive geprägt, da viele autistische Entwickler*innen die IT mitgestalten. Bei AI sind die Trainingsdaten jedoch aufgrund der Bevölkerungsstruktur an „neurotypischen“, nicht-neurodivergenten Standards orientiert. Sie reflektieren die Wahrnehmung und Denkweise der Mehrheit der Menschen und nicht die von uns Autist*innen. Selbst wenn explizit nach unserer autistischen Perspektive gefragt wird, kann die nicht-autistische Perspektive weiterhin dominieren und zu verzerrten Ergebnissen führen. Insofern ist es relevant, Autist*innen beim Alignment zu involvieren. Studien haben gezeigt, dass Autist*innen auch eher das „Große Ganze“ im Blick haben und statistisch gesehen sogar geeigneter sind, die neurotypische Perspektive mitzudenken, als umgekehrt.
- Inwiefern können KI-Technologien Vorurteile in inklusiven Arbeitsmodellen minimieren oder verstärken?
Marc Ristau: KI bietet die Chance, durch den einfachen Zugriff auf das Wissen der Welt mehr über Neurodiversität zu lernen. Aber die ausgegebenen Texte sind häufig von veralteten Wissensständen geprägt, und auch die Sprache reflektiert nicht aktuelle Diskussionen wie die zu Identity-First Language (IFL) versus Person-First Language (PFL). Das führt dazu, dass die Texte Formulierungen enthalten wie z.B. „Mensch mit Autismus“, was heute von vielen Autist*innen als diskriminierend empfunden wird. Obwohl dieses Wissen in den Trainingsdaten bereit enthalten ist, wird es dennoch in den seltensten Fällen berücksichtigt, wenn nicht explizit danach geprompted wird – und selbst dann funktioniert das nicht zuverlässig.
Arbeit mit neurodiversen Teams
- Welche besonderen Vorteile bringen neurodiverse Teams in die Arbeit mit IT- und im speziellen KI-Projekten ein?
Ursula Schemm: Neurodiversität, die „Vielfalt im Denken“, kombiniert unterschiedlichste Perspektiven, Wahrnehmungen und Vorgehensweisen. Das hat konkrete Vorteile, denn die kognitiven Stärken von Autisten oder die Innovationskraft und Kreativität von ADHSlern ergänzen und komplettieren die Skills und Stärken der „neurotypischen“ Teammitglieder. Gut etabliert ist Neurodiversität deshalb zum Beispiel in der IT Security. Da geht es darum, durch möglichst viele und unterschiedliche Perspektiven „blinde Flecken“ in Sicherheitsstrategien zu vermeiden, Einfallstore für Attacken und Schwachstellen in Systemen oder Prozessen schneller und genauer aufzuspüren und neue innovative Lösungen zu entwickeln, mit denen man Angreifern einen Schritt voraus ist. Unser Kunde Siemens stellt zum Beispiel gezielt autistische Fachkräfte für seine Cyber Security-Abteilungen ein (Quelle: Siemens Case Study – auticon Deutschland).
Bei neuen Technologiebereichen wie KI sind neurodivergente Menschen auch oft diejenigen, die die Entwicklung vorantreiben. Sie können sehr leidenschaftlich bezüglich ihrer Interessengebiete sein, sind häufig sehr wissbegierig und finden für Probleme Lösungswege, auf die neurotypische Menschen nicht kommen. Dafür tun sie sich vielleicht mit anderen Dingen schwer. Jeder von uns hat Stärken und Schwächen. Es ist die Summe der Fähigkeiten und Charaktereigenschaften und die sinnvolle Verteilung von Aufgaben nach Kompetenzen, die ein Team erfolgreich machen.
- Wie unterstützen Sie Ihre Mitarbeiter*innen im Umgang mit komplexen Technologien wie KI?
Ursula Schemm: Ich würde die Frage andersherum stellen: Wie unterstützt unsere besondere Workforce das Unternehmen beim Umgang mit komplexen Technologien wie KI? Die autistischen IT-Spezialisten sind oft die Treiber dafür, dass wir neue Services für unsere Kunden und neue Tools und Anwendungen für die Optimierung von Prozessen in unseren eigenen Abteilungen entwickeln. Es sind auch jetzt Arbeitsgruppen mit autistischen IT-Spezialist*innen, die die KI Tools testen und ihr Wissen dann an die Kolleg*innen weitergeben.
- Gibt es Beispiele für konkrete KI-Projekte, bei denen die Perspektive neurodiverser Teammitglieder besonders wertvoll war?
Marc Ristau: auticon hat vor Kurzem ein niederländisches KI-Unternehmen für Annotation übernommen, da autistische Projektmitarbeitende das Material zum Training von AI Modellen viel effizienter und in höherer Qualität annotieren können, als das sonst üblich ist. Diese Dienstleistung wird nun international angeboten.
Zukunftsperspektiven
- Welche Trends sehen Sie in der Zukunft von KI, die besonders wichtig für Inklusion und Diversität sind?
Tobias Thesing: Obwohl es natürlich diverse Gefahren wie z. B. Bias in den Trainingsdaten gibt, ist KI auch eine große Chance im Bereich Inklusion. LLMs können u. a. genutzt werden, um Texte ohne großen Aufwand inklusiver zu gestalten oder um neurodivergenten Menschen einen besseren Zugang zu Informationen und Kommunikationskanälen zu ermöglichen.
- Welche Rolle kann KI spielen, um Barrieren für Menschen mit Behinderungen oder neurodiversen Hintergründen abzubauen?
Tobias Thesing: Eine KI versteht Fragen und Anweisungen meist etwas anders als viele Menschen, weshalb auch geschicktes Prompting der Schlüssel zum erfolgreichen Umgang mit ihr ist. Diese Vorgehensweise ist mit den Schwierigkeiten vergleichbar, die wir als Autist*innen haben, mit neurotypischen Menschen eindeutig zu kommunizieren – und natürlich auch umgekehrt. Eine allgemeine Übung darin, sich in fremde Denkstrukturen hineinzuversetzen, kann dabei helfen, besser zusammenzuarbeiten.
Ratschläge und Best Practices
- Welche Tipps können Sie anderen Unternehmen geben, die KI in ihren Prozessen nutzen und dabei Inklusion fördern möchten?
Marc Ristau: KI ist eingebettet in ein Arbeitsumfeld und es lohnt sich, das individuell zu betrachten. Grundsätzlich empfiehlt es sich stets, Richtlinien und Anweisungen so konkret und detailliert wie möglich zu formulieren und auch das vermeintlich Offensichtliche zu erwähnen, LLMs können auch dabei helfen. Natürlich sollte das jeweils auf individuelle Mitarbeitende zugeschnitten sein.
- Wie gelingt es auticon, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das auf die individuellen Stärken der Mitarbeitenden eingeht?
Ursula Schemm: Wir haben schon in unserem Bewerbungsprozess viele Tests, mit denen wir die Skills und Fähigkeiten unserer Mitarbeitenden gut erfassen können. Auch mögliche Stressoren und individuelle Anforderungen an Arbeitsumgebungen und -Abläufe werden besprochen. So können wir ein sehr gutes Matching von Kundenprojekten und Mitarbeitenden machen, das deutlich ausgefeilter ist als bei anderen IT-Dienstleistern. Vor jedem Projektstart geben unsere Job Coaches den Kundenteams ein Briefing über Autismus, Neurodivergenz und Neurodiversität. Das baut Vorurteile ab und Verständnis auf und ist sehr wichtig für erfolgreiche Inklusion. Die meiste Zeit arbeiten ja unsere IT Consultants nicht mit ihren auticon-Kolleg*innen zusammen, sondern eben mit den Teams der Kunden.
Abschluss
- Was möchten Sie Unternehmen und der Öffentlichkeit noch mit auf den Weg geben, wenn es um das Thema KI und Inklusion geht?
Tobias Thesing: Neurodiverse Teams haben durch ihre unterschiedlichen Perspektiven insgesamt ein besseres Verständnis dafür, wie KI funktioniert und reagiert. Dies kann in vielen Situationen hilfreich sein – von der einfachen Beurteilung, wie sehr sich der Einsatz von KI bei einer Aufgabe lohnt, über gutes Prompt Engineering bis hin zu wertvollen Beiträgen im immer wichtiger werdenden Gebiet der AI Safety.
- Haben Sie ein Erfolgsbeispiel, das zeigt, wie KI und Inklusion gemeinsam zu innovativen Lösungen führen können?
Tobias Thesing: Da wir bei auticon viel Wert darauflegen, dass Projekt und Consultant gut zusammenpassen, arbeiten wir an einer Software, die mittels KI die Projektanforderungen und unsere Consultant-Profile analysiert und entsprechend Vorschläge liefert. Unsere Projektmanagement- und Sales-Teams waren bereits in den ersten Testvorführungen des internen Prototypen begeistert von den Möglichkeiten einer solchen Anwendung.
Marc Ristau: In dem Projekt ‚Deep Turnaround‘ für den Schiphol International Airport Amsterdam wurde ein Modell trainiert, das per Videobild Sicherheitsüberprüfungen und die Überwachung von Abfertigungsprozessen wie das Auftanken automatisieren konnte. Die Annotation von Videomaterial mit derart sicherheitskritischer Relevanz erfordert hohe Genauigkeit, was erst durch Annotation mit autistischer Präzision möglich geworden ist. Dieses System hat dazu geführt, dass Effizienz, Durchsatz, Sicherheit und weitere Qualitätskriterien verbessert werden konnten. Es wird nun auch international für weitere Flughäfen als Dienstleistung angeboten und durch die dazu kommenden Trainingsdaten stets weiterentwickelt.