#AAM Blogpost: Kreative Intelligenz, Innovation und Autismus – gibt es einen Zusammenhang?

Kreative Intelligenz ist laut Wikipedia „…die Fähigkeit zu Innovationsprozessen und zur eigenständigen, originellen Lösung von vertrauten und fremden Problemen“. Simon Baron-Cohen, Professor an der Cambridge University, Buchautor und Berater unseres auticon UK Teams, kommt auf Basis neuester Forschungen in seinem Buch „The Pattern Seekers“ zu dem Schluss, dass viele Autist*innen eine überdurchschnittliche innovative und kreative Intelligenz haben. Wir haben drei auticon Consultants Fragen rund um Innovation, Autismus und ähnliche Themen gestellt. Die Antworten geben interessante Einblicke in die Art, wie sie die Welt wahrnehmen.

Die Antworten sind von:

  • Aidan Millar-Powell, Senior Consultant bei auticon in Australien
  • Marc Ristau, Senior Consultant bei auticon in Deutschland
  • Beat Steiner, Senior Consultant bei auticon in der Schweiz

Hier geht es zum Original-Interview (englischsprachig) 

Und hier ist eine deutsche Übersetzung:

F: Erkennst du bei dir Charakteristika eines Hypersystemikers, also eines Menschen, der häufig Dinge in Ordnung bringen will? Wenn ja, wie beeinflusst das deine Arbeit bei auticon? Siehst du das Hypersystematisieren als einen Vorteil?

Beat Steiner: „Ja, vor allem bei der Erstellung von Kennzeichnungssystemen oder Schlüsseln, welche das Zusammenfügen von Daten ermöglichen. Ich nutze Datenvisualisierung als unterstützendes Werkzeug, um zu sehen, wie gut meine Systeme bei der Klassifizierung von Daten abschneiden und wie konsistent Systeme und Daten sind. Dies steht nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass ich von Natur aus ein Chaot bin.“

>>Ich baue Vertrauen zu Menschen nicht nur durch Empathie auf,
sondern auch durch meine Fähigkeiten.<<

Aidan Millar-Powell: „Persönlich systematisiere ich zwar Dinge, aber ich bin nicht Rain Man und es ist auch nicht unbedingt eine autistische Eigenschaft. Als Autist habe ich früher viele Aufgaben nicht umsetzen können, scheiterte immer wieder an Kleinigkeiten, die ich nicht beachtet hatte. Das passiert jedem Menschen und hat in der Regel einen Lerneffekt. Wenn aber jemand Lernschwierigkeiten hat, kann die negative Erfahrung in ein seelisch zermürbendes Leben des ständigen Scheiterns münden. Als Reaktion darauf, und weil ich reifer geworden bin, setze ich mir jetzt einen noch höheren Standard als Ziel für operative und organisatorische Integrität und gehe mit deutlich mehr Sicherheit, Vorbereitung und Kompetenz an Aufgaben heran. Ich baue Vertrauen zu Menschen nicht nur durch Empathie auf, sondern auch durch meine Fähigkeiten. Systematisierung geschieht eher beiläufig.“

Marc Ristau: „Von frühester Kindheit an systematisiere ich die Welt um mich herum, also wie ich andere wahrnehme, meine Spielsachen, meinen Tagesablauf, wie ich kommuniziere. Schaut euch nur das beigefügte Bild von mir an, wie ich neben meinen geordneten Spielsachen schlafe, sortiert danach, wie sehr ich sie mochte. Der Teddy musste immer an der gleichen Stelle liegen, sonst hätte ich nicht schlafen können. Ich sehe häufig Schönheit in Ordnung und erkenne Ordnung dort, wo niemand anderes sie bislang gesehen hat, selbst in einfachen Dingen wie Ampeln oder Sprachmustern. Diese Eigenschaft führte auch dazu, dass ich erhaltene Aufgaben in der Regel systematisiere und lieber ein Framework aus Bausteinen zur Lösung dieser oder anderer Probleme schreibe, als die Business-Logik direkt zu implementieren.“

Quelle: Privat

F: Forschungsergebnisse lassen darauf schließen, dass Autismus zu innovativer und kreativer Intelligenz beiträgt. Kannst du das bestätigen und erkennst du Innovation und kreative Intelligenz auch in deiner Arbeit und Denkweise?

Marc Ristau: „Hyperkonnektivität, Hyperreaktivität und Hyperplastizität autistischer Gehirne erlauben es uns, eine größere ‚Bandbreite‘ auf den Eingangskanälen zu verarbeiten. Das bedeutet auch eine gesteigerte Häufigkeit in der Herstellung und größere Anpassungsfähigkeit bei der Veränderung von sinnvollen Verbindungen. Daher berücksichtigt das Nervensystem von Autist*innen mehr Faktoren als das ‚neurotypischer‘ Personen1. Dadurch steigt natürlich auch die Wahrscheinlichkeit, dass dabei etwas berücksichtigt wird, das noch niemand sonst beachtet hat und das als innovativ oder zumindest kreativ angesehen werden kann. Ich erkenne das vor allem in meiner Wahrnehmung, aber ich kann meinem Gehirn auch dabei ‚zuschauen‘, wie es über das große Ganze nachdenkt und wie viele Assoziationen es entwickelt, wenn es über einen scheinbar einfachen Umstand nachdenkt. Jedem Gedanken wird ein stetig weiter wachsender Kontext gegeben, je länger ich dabei ‚zuschaue‘, und schließlich ergibt sich daraus dann eine Lösung, die niemand sonst vorher gesehen hat.“

>>Wir sind alle ‚NT‘ und autistisch gleichermaßen und auf unsere eigene
Art und Weise innovativ und kreativ intelligent.<<


Aidan Millar-Powell:
 „Ich verstehe, für wen diese Frage gedacht ist, aber ich weiß nicht, ob das der richtige Ansatz ist, um den Vorteil von Autisten am Arbeitsplatz zu verstehen. Menschliche Genialität ist ein ziemlich komplexes und nicht greifbares Konzept. Es wird auch durch eine steigende Anzahl an Fokusgruppen, Statistiken oder Tortendiagrammen oder mitreißenden Artikeln zu neuesten Studien nicht einfacher oder nur kompliziert statt komplex. Autismus ist kein Zusatzstoff, der lediglich ein neurotypisches Gehirn verändert, es ist kein Zaubertrank, sondern eine komplett andere Sichtweise. Wir sind alle ‚NT‘ (neurotypisch1) und autistisch gleichermaßen und auf unsere eigene Art und Weise innovativ und kreativ intelligent. Es ist nur so, dass autistische Menschen dazu neigen, weniger oder andere Vorstellungen darüber zu haben, wie, wann, wo und warum wir diese kreative Intelligenz ausüben.“

Beat Steiner: „Innovativ zu sein ist nicht allen Autisten gegeben. Ich gehöre zu den Glücklichen. Innovation ist eine meiner Hauptstärken. Wenn bei der Arbeit mein Bedürfnis nach Innovation nicht befriedigt wird, bringe ich es ein, indem ich ein Werkzeug entwickle, das Routinearbeiten automatisiert.“


F: Innovatoren lieben es, Neues zu entwickeln und Lösungen für Probleme zu finden. Welche Innovation hast du in deinem Leben geschaffen und welches Problem hat sie gelöst?

Aidan Millar-Powell: „Meine größte Schöpfung bin ich selbst. Das bedeutet nicht, dass ich ‚self-made‘ bin, denn ich habe zwar viel an mir gearbeitet, aber ich hatte auch eine Menge Hilfe! Meine Zeit vor auticon war ziemlich hart. Ein Teil meiner Reise bestand darin, mich zu einer Person aufzubauen, die der Welt standhalten kann. Dafür musste ich mein Denken verändern. Ich bin jeden Tag um 4 Uhr morgens aufgestanden, nur um das Programmieren zu üben, und habe mich ab da in alles regelrecht hineingestürzt, was ich getan und angefangen habe. Wo ich früher versagte, übertreffe ich jetzt Erwartungen. Ein weiterer Lerneffekt dieses anderen Denkens war, dass ich ein Team von Menschen brauche, die mich unterstützen, um ein Ziel zu erreichen. Ich bin sehr froh, jetzt an einem Punkt in meiner Karriere angekommen zu sein, in dem ich von den richtigen Leuten umgeben bin.“

Marc Ristau: „Während meines Studiums habe ich angefangen, ein eigenes, sehr schlankes Content-Management-System zu entwickeln, da die bestehenden Systeme sperrig gewesen sind, viele Ressourcen verbrauchten und unbequem zu bedienen waren. Dabei habe ich bereits Animationsmodule in JavaScript implementiert, als der Rest der Welt Webseiten noch mit Flash animierte – in dem Moment, als ich dessen Architektur untersuchte, erkannt ich bereits, dass das eine Sackgasse war. Ich war schon immer begeistert von effektiven und komfortablen Oberflächen und Mensch-Maschine-Schnittstellen und begann aus diesem Grund in das Thema User Experience einzutauchen. Dadurch entwickelte ich ein User Interface- und Datenmodell-Framework, das das Problem der sich schnell verändernden Benutzer-Anforderungen umschiffte, indem es den Benutzern die Möglichkeit gab, Daten über mehrere Ecken miteinander zu verknüpfen. Darauf aufbauend arbeite ich an einem selbsterklärenden Crowd-Sourced-Collaboration-Prozess- und einer Big-Data-Umgebung, die dafür gedacht ist, die Notwendigkeit von sich sehr schnell weiterentwickelnden Prozessen zu ermöglichen, wie das zu Beginn der Pandemie der Fall war.

>>Autist zu sein ruft eine Art Drang hervor, nicht nur eine Lösung zu finden, die sich in einem bestimmten Kontext auszeichnet, sondern eine, die auch zum Erreichen größerer Ziele beiträgt.<<


F: Wie hängen deiner Meinung nach Autismus und Innovation zusammen?

Aidan Millar-Powell: „Es ist dasselbe wie bei jedem anderen Menschen auch. Wie ich schon sagte, sind wir alle auf unsere eigene Art und Weise innovativ, es geht nur darum, es durchzuziehen und über die Grenzen, die wir künstlich um uns herum aufbauen, hinauszusehen. Autisten kümmern sich nicht das störende Rauschen, das durch kulturelle Hintergründe verursacht wird, oder stellen dumme Vermutungen über andere an. Wir gehen einfach auf ein Problem zu und sprechen es auf eine Weise an, die weniger emotional und mehr sachlich ist. Es ist tatsächlich dieses Rauschen, das uns in manchem sozialen Kontext im Weg steht, es ist mental einfach zu laut.“

Beat Steiner: „Ausdauer, Präzision, Konzentration, aber auch Quer-Denken, Hinterfragen von bestehenden Systemen und Traditionen. Manchmal sehe ich die Nadel im Heuhaufen. Neugierde über System- (und vor allem Organisations-) Grenzen hinweg, sich durch Produktkataloge wühlen und die Puzzle-Teile anders zusammensetzen als andere es tun. Das gilt nicht nur für physische Objekte, sondern auch für Prozesse.“

Marc Ristau: „Ich bin davon überzeugt, dass viele große Innovatoren zumindest ein Stück weit im Autismus-Spektrum eingeordnet werden können und vermutlich nur deshalb nicht diagnostiziert wurden, weil es gut für sie funktioniert hat, vor allem weil sie in einem unterstützenden oder wohlhabenden Umfeld aufgewachsen sind. Ich erkenne an seinem Humor, seiner Wortwahl und vor allem an seiner Körpersprache, dass der anerkannte Innovator Elon Musk sehr wahrscheinlich einer von uns ist, und es ist auch allgemein bekannt, dass viele andere in der Tech-Branche offen mit ihrer Diagnose umgehen. Autist zu sein ruft eine Art Drang hervor, nicht nur eine Lösung zu finden, die sich in einem bestimmten Kontext auszeichnet, sondern eine, die auch zum Erreichen größerer Ziele beiträgt.“

>>Sei egoistisch genug, um zu glauben, dass du die einzige Person für den Job bist,
aber klug genug, um zu wissen, wann du es nicht bist.<<


F: Was ist dein Geheimnis für eine hohe Motivation trotz aller widrigen Umstände?

Aidan Millar-Powell: „Ego und Amnesie. Du musst dich selbst zu einer Person aufbauen, die Erwartungen an dich selbst und an die Welt um dich herum hat. Akzeptiere, dass es für dich in Ordnung ist, so zu denken, wie du denkst, und dass die anderen meistens Unrecht haben. Sei egoistisch genug, um zu glauben, dass du die einzige Person für den Job bist, aber klug genug, um zu wissen, wann du es nicht bist. Und akzeptiere, dass es nicht immer darum geht, Recht zu haben, besonders wenn es um Beziehungen geht, und das wird genug Raum für persönliches Wachstum und Demut lassen. Was die Amnesie betrifft: Ich wollte etwas über das Vergessen von Fehlern und Versagen erzählen… aber was genau, daran kann ich mich nicht erinnern.“

Beat Steiner: „Bringe Innovation in langweilige Arbeit ein. Hartnäckigkeit gewinnt gegen viele Hindernisse. Aber ich muss zugeben, dass ich die Geduld heute schneller verliere als noch vor 4 Jahren. Die widrigen Umstände entstehen dadurch, dass man sich von seiner eigenen wahren Natur entfremdet. Hör auf, dich bewusst oder unbewusst anzupassen. Akzeptiere dein Anders-sein. Spüre, wer und wie du bist. Akzeptiere dich dann so, wie du bist und verbinde dich wieder mit dir selbst. Nur dann bist du in der Lage, dich weiterzuentwickeln und nicht nur noch raffinierter anzupassen, was zu noch mehr Erschöpfung führt.“

Marc Ristau: „Erlaube dir, für diesen Tag aufzugeben, und deine Motivation für jeden neuen Tag, jeden Morgen, zurückzusetzen. Akzeptiere alles, was bislang passiert ist, als Status Quo. Auf diese Weise kannst du jeden Tag so beginnen, als wäre es der erste.“

Neurotypisch ist die Bezeichnung für die neurologische Disposition der Mehrzahl der Menschen. Sie werden deshalb auch „NT“ genannt. Dem gegenüber stehen neurodivergente Menschen wie Autisten, deren Gehirne Informationen und Reize anders verarbeiten. Teams mit neurotypischen und neurodivergenten Mitgliedern sind neurodivers.

Eine detaillierte (satirische) Beschreibung des „Neurotypischen Syndroms“ aus Sicht von Autist*innen ist hier zu finden: https://autismus-kultur.de/was-ist-das-neurotypische-syndrom

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